Arbeitswissenschaftliche Empfehlungen zur Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit
(gem. § 6 ArbZG, Nacht-und Schichtarbeit)
Empfehlung 1: Aufeinanderfolgende Nacht- und Spätschichten
A) Die Anzahl der aufeinander folgenden Nachtschichten sollte möglichst gering sein.
Viele Schichtarbeiter haben subjektiv den Eindruck, dass sich ihr Körper bei fünf und mehr hintereinander liegenden Nachtschichten an die Nachtarbeit gewöhnt. Tatsächlich findet jedoch keine echte Anpassung der Körperfunktionen an die Nachtarbeit statt. Einer der Gründe dafür ist, dass sich das Zeitbewusstsein als einer der zentralen Zeitgeber des Menschen unter normalen Bedingungen nicht ausschalten lässt. Man kann daher höchstens instabile Teilanpassungen erreichen, zumal die tatsächlich erreichbaren Veränderungen im biologischen Rhythmus schon durch einen einzigen freien Tag wieder aufgehoben werden können. Nachtarbeit ist also immer eine Arbeit gegen den biologischen Rhythmus.
Je weniger Nachtschichten hintereinander gefahren werden, umso weniger muss sich der Körper umstellen. Konkret empfohlen werden max. 4 Nachtschichten hintereinander (z.B. BEST-Bulletin, 1991). Das bedeutet, dass man sich nach einer kürzeren Nachtschichtphase auch schneller wieder an einen normalen Tagrhythmus gewöhnt.
Mit steigender Anzahl der Nachtschichten hintereinander erhöht sich auch das Schlafdefizit, denn der Nachtschichtarbeiter muss am Tage schlafen. Schlaf am Tag hat aber nie die gleiche Dauer und Qualität wie Schlaf in der Nacht. Nicht nur die "Innere Uhr", sondern auch äußere Einflüsse, wie z.B. Lärm im Haus oder die Helligkeit des Tages, bewirken, dass der Schlaf kürzer und weniger tief ist.
Es gibt zudem hinreichende Hinweise darauf, dass das Fehler- und Unfallrisiko nach 2-3 Nachtschichten hintereinander exponentiell ansteigt.
Vor allem Beschäftigte in "Dauernachtschicht" meinen, dass sie sich gut an die Nachtarbeit anpassen können. Sicherlich kommen manche Menschen besser als andere mit Nachtarbeit zurecht. Aber diese Anpassung kann schließlich auch nur stattfinden, wenn der Einfluss des "normalen" Tagesrhythmus und des sozialen Lebens möglichst gering ist. Das ist aber kaum möglich, wenn die Personen im sozialen Umfeld, wie z.B. Familie und Freunde, in anderen (normalen) sozialen Rhythmen leben. Lange Nachtschichtphasen, aber auch viele Spätschichten hintereinander, führen dazu, dass sich entweder der Nacht- bzw. Spätarbeiter vom Familienleben abkoppelt oder dass die Familie einen erhöhten Aufwand leisten muss, um sich diesem (abnormen) Rhythmus anzupassen.
Auch die Freizeitgestaltung ist bei Nacht- oder Spätarbeit beeinträchtigt: Freunde mit anderer bzw. "normaler" Arbeitszeit haben z.B. keine Zeit, wenn Nachtarbeiter frei haben. Kulturelle und sportliche Veranstaltungen sowie Weiterbildungsangebote haben ihre "festen" Zeiten, die sich am normalen Rhythmus orientieren. Auch wenn es in letzter Zeit speziell im Weiterbildungssektor einige Angebote für Schichtarbeiter gibt und auch das Rundfunk- und Fernsehprogramm "rund um die Uhr" sendet oder Inhalte zum Abrufen bereitstellt, so kann der Nachtschichtarbeiter (und auch der Spätschichtarbeiter) die generell in unserer "Abend- und Wochenend-Gesellschaft" höher bewerteten Freizeiten am späten Nachmittag und Abend doch nicht nutzen, insbesondere nicht im sozialen Verbund. Mögliche Folgen sind Beeinträchtigungen der sozialen Teilhabe bis hin zur sozialen Isolation. Von daher ergibt sich als Ergänzung zur Empfehlung 1 aus Gründen der Vermeidung sozialer Beeinträchtigungen die Empfehlung
B) Die Anzahl der aufeinanderfolgenden Spätschichten sollte ebenfalls möglichst gering sein
Empfehlung 2: Arbeitsfreie Zeit nach Nachtschichtphasen
Nach einer Nachtschichtphase sollte eine möglichst lange Ruhephase (arbeitsfreie Zeit) folgen, und zwar möglichst länger als 24 Stunden.
Arbeit in der Nacht stellt immer eine besondere körperliche, psychische und soziale Belastung dar. Um diese auszugleichen, brauchen Nachtarbeiter mehr Zeit zur Erholung als Tagarbeiter. Neben der erforderlichen Zeit für körperliche und psychische Erholung sollte in der arbeitsfreien Zeit auch noch Zeit für Familie und Freizeit bleiben.
Kurze Wechsel (z.B. von der Nacht- in die Spätschicht, mit Unterschreitung der täglichen Mindestruhezeit) sind weder zulässig noch empfehlenswert.
Empfehlung 3: Wochenendfreizeit
Geblockte Freizeit am Wochenende ist besser als einzelne freie Tage in der Woche oder am Wochenende.
Unter einem "freien Wochenende" werden zwei zusammenhängende freie Tage am Wochenende verstanden, von denen zumindest einer ein kompletter Samstag oder ein kompletter Sonntag ist.
Wir leben nun einmal in einer "Abend- und Wochenendgesellschaft": Vor allem für Familienleben und soziale Kontakte ist die Zeit am Samstag und Sonntag besonders "wertvoll". Freie Tage in der Woche (wenn andere arbeiten) haben dagegen für die Freizeitgestaltung einen geringeren Nutzwert. Werden zu viele Wochenenden mit Arbeitszeit belegt, so führt das zu Beeinträchtigungen im Familienleben und in den sozialen Aktivitäten.
Empfehlung 4: Ungünstige Schichtfolgen
Ungünstige Schichtfolgen sollten vermieden werden.
(1) Lang-rotierte Arbeitszeitsysteme
Lang-rotierte Arbeitszeitsysteme sollten vermieden werden, da diese zu einer Massierung von Arbeitszeit führen (siehe auch EMPFEHLUNG 6 Massierung von Arbeitszeit), die auch vom Gesetz her innerhalb gewisser Zeitabschnitte auszugleichen ist. Werden viele gleiche Schichten hintereinander gefahren, so kann das, z.B. im Fall von Spätschichten, zu sozialer Isolation führen. Viele Nachtschichten hintereinander haben, wie auch schon zu EMPFEHLUNG 1 aufeinanderfolgende Nachtschichten ausgeführt, Schlafdefizite und Desynchronisation des Tagesrhythmus zur Folge. Allerdings sind wegen der daraus resultierenden langen Freizeitblöcke solche Arbeitszeitsysteme bei vielen Beschäftigten (vor allem bei jüngeren) beliebt.
(2) Rückwärts-rotierte Arbeitszeitsysteme
Rückwärtsrotierte Arbeitszeitsysteme (Nacht-Spät-Früh) sind ebenfalls zu vermeiden: Sie können zu sogenannten "kurzen Wechseln" führen. Dabei sind die Ruhezeiten zwischen den Schichten dann häufig kürzer als 11 Stunden. Normalerweise sind Ruhezeiten unter 11 zusammenhängenden Stunden (in Ausnahmefällen 10 Stunden) schon vom Gesetz her verboten. Zu bevorzugen sind jedoch immer längere Ruhezeiten, z.B. 16 Stunden. Beschäftigte in vorwärtsrotierten Schichtsystemen (mit einer Schichtfolge von Früh- auf Spät- auf Nachtschicht) berichten insgesamt über weniger Beschwerden in den Bereichen "Schlaf' und "allgemeines Wohlbefinden" als Beschäftigte in rückwärtsrotierten Systemen. Auf der anderen Seite ist eine Vorwärtsrotation i.d.R. mit einer Verringerung der zusammenhängenden Freizeitblöcke verbunden, was solche Systeme für die Beschäftigten (im Besonderen für die jüngeren) weniger attraktiv macht.
(3) Ungünstige Schichtfolgen
Es gibt Schichtfolgen, die aus arbeitswissenschaftlicher Sicht als ungünstig einzustufen sind, wie z.B. Nacht-frei-Früh: Im Schichtplan sieht das auf den ersten Blick nach einem freien Tag nach der Nachtschicht aus. Es ist aber zu bedenken, dass es sich tatsächlich nicht um 24 Stunden arbeitsfreie Zeit handelt, weil der Beschäftigte erst am Morgen des "freien" Tages von der Nachtschicht nach Hause kommt und dieser Tag damit noch einen erheblichen Anteil (Nacht-)Arbeit enthält. Nach dem notwendigen Schlaf an dem Morgen bleibt somit nicht mehr allzu viel Freizeit.
In Freizeitblöcke "eingestreute" einzelne Schichten zerschlagen einen Freizeitblock, sie reduzieren damit die zusammenhängende Erholungs- und Freizeit und verringern somit die Effektivität der Freizeitblöcke für die Erholung wie für die soziale Teilhabe. Insgesamt sollte darauf geachtet werden, dass weder einzelne eingestreute Arbeitstage noch einzelne eingestreute Freizeittage im Schichtplan vorkommen.
Empfehlung 5: Frühschichtbeginn
Die Frühschicht sollte nicht zu früh beginnen.
Konkret wird empfohlen, dass ein Arbeitsbeginn um 7:00 besser ist als einer um 6:00 oder gar noch früher. Denn bei langen Wegezeiten kann die Frühschicht zur "halben Nachtschicht" werden. Die Erfahrung zeigt zudem, dass Beschäftigte oft vor einer Frühschicht auch nicht (viel) früher als sonst schlafen gehen. Die Folge: Schlafdefizit verbunden mit Übermüdung, was wiederum zu einem erhöhten Fehler- und Unfallrisiko führen kann.
Empfehlung 6: Massierung von Arbeitszeit
Die Massierung von Arbeitstagen hintereinander oder von Arbeitszeiten an einem Tag sollte begrenzt werden.
Wenn die Arbeitszeit innerhalb einer Woche häufig mehr als 48 Stunden oder die tägliche Arbeitszeit häufig mehr als 8 Stunden beträgt, ist die Folge, dass sich durch die lange Arbeitszeit Belastungen unzumutbar anhäufen können und durch eine Massierung von Arbeitszeit zudem die Freizeit in diesen „Arbeitsblöcken" erheblich verringert wird. Die Folge sind Ermüdung und Erschöpfung, wodurch sich auch das Fehler- und das Unfallrisiko erhöhen. Gleichzeitig erfolgt eine Reduzierung der Freizeit und damit eine erhöhte Beeinträchtigung des Familien- und Soziallebens (zumal an der Seite eines voll berufstätigen Partners). Ältere Beschäftigte merken eher, dass eine solche Massierung von Arbeitszeit anstrengend ist und sie nach solchen Phasen mehr Erholungszeit brauchen, weshalb letztendlich von den sich ergebenden längeren Freizeitblöcken wenig Zeit für soziale Aktivitäten übrig bleibt.
Folgt auf eine längere Zeit zusammenhängender Arbeit ein langer Freizeitblock, können (insbesondere jüngere) Beschäftigte versucht sein, diesen nicht für eine ausreichende Erholung und für die Familie zu nutzen, sondern um "nebenbei" zu arbeiten.
Es sollte daher immer nach Alternativen in der Arbeitszeitgestaltung gesucht werden, durch die eine Massierung von Arbeitszeit vermieden werden kann. Eine Verlängerung der wöchentlichen oder der täglichen Arbeitszeit sollte nur in Betracht gezogen werden, wenn die körperliche und die psychische Belastung durch die Arbeit bekannt sind und eine solche Regelung auch aus arbeitswissenschaftlicher Sicht unbedenklich ist (vgl. EMPFEHLUNG 7: Arbeitsbelastung sowie die Empfehlungen zur Gestaltung der Dauer der Arbeitszeit).
Empfehlung 7: Berücksichtigung der Arbeitsbelastung
Die Schichtlänge sollte an die Arbeitsbelastung gekoppelt sein.
Schichtpläne sollten unbedingt nach der Art der Tätigkeit, der Arbeitsschwere und den Arbeitsbedingungen im Verlauf der verschiedenen Schichten gestaltet werden.
Bei geringer körperlicher und psychischer Belastung sowie günstigen Arbeitsbedingungen können auch Arbeitsschichten länger als 8 Stunden physisch und psychisch beeinträchtigungsfrei und damit akzeptabel sein (oder gestaltet werden). So kann die Beanspruchung beispielsweise durch häufigere Pausen reduziert werden, womit allerdings in der Regel eine Ausdehnung der arbeitsgebundenen und eine Reduzierung der arbeitsfreien Zeit und damit eine Reduzierung von Kontaktmöglichkeiten und daraus sich ergebende soziale Beeinträchtigungen verbunden sind. Es sollen daher immer alle Belastungskomponenten für die Gestaltung und Beurteilung der Dauer der Arbeitszeit herangezogen werden.
Bei erhöhter körperlicher Belastung sollten die Arbeitsschichten dagegen kürzer sein. Aber auch bei hoher psychischer Belastung, z.B. bei Überwachungstätigkeiten mit hohem Risikopotential, sollte eine Arbeitsschicht nicht länger als 8 Stunden dauern. Eine Reihe von Untersuchungen belegt, dass das Fehler- und das Unfallrisiko nach 8-9 Arbeitsstunden exponentiell ansteigen.
Zudem sind die Arbeitsplatzgrenzwerte (AGW) auf der Basis von 8 Stunden an fünf Tagen pro Woche berechnet. Da nicht eindeutig bei allen Belastungsbedingungen geklärt ist, ob ein Anstieg des Risikos bei einer Verlängerung der Arbeitszeit linear oder exponentiell verläuft, muss dieser Gesichtspunkt im Auge behalten werden. Sollte jedoch eine Arbeitsschicht auf mehr als 8 Stunden verlängert werden, so muss darauf geachtet werden, dass nicht auch noch zusätzliche Überstunden anfallen können.
Empfehlung 8: Wochenarbeitszeiten
Die Wochenarbeitszeiten sollten nicht zu stark voneinander abweichen.
Durch Ausgeglichenheit in den Wochenarbeitszeiten und damit auch in den Wochenfreizeiten werden Belastungs- und Erholungszeiten gleichmäßiger verteilt. Damit wird eine massierte Belastung wie auch eine zu unterschiedliche physiologische und soziale Desynchronisation vermieden. Auf der anderen Seite werden die langen Erhol- und Freizeiten, die sich bei ungleichmäßigen Wochenarbeitszeiten ergeben, von vielen, insbesondere jüngeren Beschäftigten geschätzt (s. auch EMPFEHLUNG 6 Massierung von Arbeitszeit sowie Empfehlungen zur Gestaltung der Dauer der Arbeitszeit).
Empfehlung 9: Vorhersehbare und überschaubare Schichtpläne
Schichtpläne sollten vorhersehbar und überschaubar sein.
a) Schichtpläne sollten in puncto Verteilung von Arbeits- und Freizeit vorhersehbar sein. Da es für den Schichtarbeiter von vornherein schwierig ist, ein "normales" Privat- oder Sozialleben zu führen, sollte eine Planung des Familienlebens und der Freizeitaktivitäten nicht zusätzlich durch hohe Variabilität der Arbeitszeiten erschwert werden. Wenn ein Schichtplan von betrieblicher Seite häufig und vor allem kurzfristig, z.B. aus technischen oder arbeitsorganisatorischen Gründen, geändert wird, so ist das beste Schichtsystem wertlos und eine Planung der Freizeit unmöglich. Sind dennoch Änderungen im Schichtsystem unumgänglich, z.B. bei nicht planbarer wechselnder Auftragslage, so sind diese möglichst frühzeitig einzuplanen und auch rechtzeitig bekannt zu geben.
b) Schichtpläne sollten zudem überschaubar sein. Läuft ein Schichtsystem über 10, 12 Wochen oder länger, d.h. wiederholt sich der Zyklus erst nach dieser Zeit, so ist ebenfalls die Planung der Familien-und Freizeit erschwert.
Um eine Überschaubarkeit und Planbarkeit zu gewährleisten, sollte der Schichtplan für mehrere Monate, besser noch für ein ganzes Jahr, festgelegt, ausgedruckt oder in elektronischer Form jedem Betroffenen in personalisierter Form zur Verfügung gestellt werden. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass dieser Plan von den Mitarbeitern stets bei sich getragen und bei – möglichst zu vermeidenden – Änderungen aktualisiert werden kann.